Emersacker. Zwar mag bereits im Mittelalter vereinzelt nach dem lebenden Modell gezeichnet worden sein, doch seine universelle Bedeutung für die künstlerische Ausbildung und Arbeit erlangte das Aktzeichnen erst in der Renaissance. Während Christoph Kolumbus sein Amerika entdeckte, nahmen die Künstler Italiens ihr wiederentdecktes "Gelobtes Land" in Besitz: der Mensch in seiner natürlichen Nacktheit war für die Kunst neuentdeckt worden. Durch nichts ließen ihre direkten Nachfolger sich aus diesem Land wieder vertreiben: Das Aktzeichnen zieht sich fortan wie ein roter Faden durch die Kunstgeschichte Europas. Mögen Stilepochen und Moden in Malerei und Plastik einander auch beständig ablösen, in ihren Aktzeichnungen bleiben die abendländischen Künstler einander durch alle Epochen engverbunden.
Das Vermächtnis der Renaissance
Hier kurz einige der wichtigsten Erkenntnisse und Neuerungen, die die Einstellung zur figürlichen Darstellung des Menschen in der Renaissance revolutionierten, und das Fundament des modernen Aktzeichnens mitbegründen:
Die Entdeckung der Linearperspektive, also der geometrischen, zeichnerischen Konstruktion einer perspektivischen Raumdarstellung in der Ebene durch Filippo Brunelleschi (Goldschmied, Maler, Architekt (Kuppel des Doms von Florenz) 1376-1446).
Die Proportionslehre, Lehre vom
gesetzmässigen Aufbau der Figur mittels "richtiger"
Bemessung von Teilstrecken (L.B.Alberti (1404-1772),
Leonardo, Albrecht Dürer, "Vier Bücher von
menschlicher Proportion", 1528)
Was als Suche nach einem allgemeingültigen
Schönheitskanon begann mündet heute in die
"Proportionskunde":
Wir finden die Streckenverhältnisse durch Messen am
jeweiligen Modell heraus und studieren die menschlichen
Proportionen in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und
morphologischem Typus, nicht in Abhängigkeit von ideellen
Vorgaben.
Die Künstleranatomie, erste Leichensektion durch einen Künstler (Antonio del Pollaiulo, 1430?-1498)
Der Anatomieatlas: die Kartographierung des menschlichen Körpers (Leonardo da Vinci, Marc’Antonio della Torre)
Erste Präparierung eines menschlichen Skeletts, Entwicklung des "Muskelmanns" ("écorché") zu Lehr- und Anschauungszwecken
Vereinfachender Aufbau der Figur aus Kuben und Röhren zur Steigerung der räumlichen Eindringlichkeit (z.B. Dürer, Hans Holbein d.J.(1497-1543))
Soweit dieser kurze historische Überblick.
Aktzeichnen heute - Standortbestimmung
Was aber kann uns Heutigen das Aktzeichnen geben, was dürfen
wir dort erwarten, und was hoffen zu erreichen?
Gerade heute, im medialen Zeitalter, bietet das Aktzeichnen dem
von einer elektronischen Datenmüllbilderflut umspülten
Mitmensch die Gelegenheit, übernommenes und
überkommenes Bildgedankengut zu überdenken und sich ein
nunmehr "eigenes Bild" vom "Ist"-Menschen zu machen.
Wir erkennen: die wirkliche Erscheinung des Menschen hinkt seiner
multimedialen Repräsentation gefährlich hinterher; der
Mensch ist, einmal entblößt, wie er aussieht: nackt,
verletzlich, einzigartig und irgendwie ziemlich real.
Es ist die nackte Wahrheit. Du bist wie du aussiehst. Nur wie wir
wirklich aussehen ist jetzt verdammt schwer zu begreifen.
Wenn es uns endlich gelingt, können die
allgegenwärtigen Begriffe vom "Menschsein" endlich wieder
mit einem Inhalt gefüllt werden; denn die menschlichen
Eigenschaften werden wieder bezeichnet, werden kenntlich
gemacht.
Wird ein Mensch, wird der Mensch gezeichnet. Doch der Mensch, er
muss zuerst erkannt, er muss "gesehen" sein.
Und dann?
- Ja dann ist alles möglich.
Ganz am Anfang
Die vielen Voraussetzungen und Fähigkeiten, die wir zum
Aktzeichnen mitbringen, sind:
Das unvoreingenommene Sehen, die Neugier, die Lern- und
Experimentierfreude, ein entwickeltes Proportions- und
Raumgefühl, verinnerlichende Aneignung des Gesehenen und die
Bereitschaft zum steten Selbstüberdenken.
Anregungen
Hier zum Schluss noch ein paar praktische Tips für absolute Neueinsteiger:
- Versuchen, den Akt von Innen zu sehen, sich nicht nur am Kontur entlangtasten.
- Von Innen nach Aussen denken, die Figur aus dem Zentrum entwickeln, sie wachsen lassen wie einen Baum, das Wachstum geht vom Rumpf zu den Gliedern.
- Das Zeichenmaterial zu Beginn schwungvoll, doch nur mit leichtem Druck übers Papier führen um in der Anlage beweglich zu bleiben.
- Die Figur zu Beginn: wie durch einen Schleier gesehen. So bleibt man flexibel, und man kann, wenn man an der Proportion oder der Haltung später noch Änderungen vornehmen muss, z.B. wenn sich das Modell doch bewegt hat, die Umrisslinie noch nach Aussen oder Innen versetzen.
- In der Anlage des Blattes zu Beginn muss man bereits wichtige kompositorische Entscheidungen treffen.
- Dimensionierung des Aktes zum Format-wie groß? Anschneiden oder Figur im Vollformat?
- Den Raum zeichnen, den die Figur einnimmt, nicht nur die Oberfläche des Modells.
- Die Schraffuren sparsam verwenden; doch immer mit der Form zeichnen.
- Auch mit Beleuchtungseffekten so sparsam wie möglich umgehen.
- Die Figur in Gedanken auf ihre plastischen Kerne reduzieren, die genaue Lage der Glieder im Raum bedenken.
- Sich im Inneren klar werden: wie liegen die Hauptformen (Kopf, Brustkorb, Becken) im Verhältnis zueinander (Drehung/Neigung/Kippung).
- Unterscheide Hauptform von Zwischen- und Nebenform. Der Akt unterliegt als Körper den Gesetzen der physikalischen Mechanik: klar werden über das Verhältnis von Last und Stütze.
- Wo liegt der Schwerpunkt der Figur?
- Welche Teilform ist vom Skelett bestimmt, welche von Muskulatur und Gewebe?
- Punkte, an denen das Skelett an der Oberfläche liegt, sind wichtige Ankerpunkte an denen ich die richtige Lage der Details aufhängen kann.
- Welche Muskeln sind in Aktion (angespannt), welche in Ruhe bzw. passiv gestaucht?
- Wo genau liegen die Gelenke, wie liegen ihre räumlichen Achsen zueinander?
- Beim Zeichnen sollte man zu Beginn Einzelheiten zurückdrängen, um sich so das Schönste für den Schluss aufzusparen.
- Stuhlkanten, Lehnen, Unterlagen dürfen sowieso ganz weggelassen werden.
- Überhaupt: nicht Vollständigkeit, sondern die überzeugende räumliche Erscheinung suchen.
- Schwierige Verkürzungen, extreme Nahsicht meiden. Auch objektiv völlig richtig Gezeichnetes kann da oft ziemlich falsch aussehen (Eigene Erfahrung!).
Ausblick
Wer noch weiter über das im Kurs Gebotene hinausgehen will, dem helfen: Proportionsstudien in Eigenregie, die Selbstanfertigung von zweidimensionalen Verständigungshilfen nach Bammes, zeichnerische Muskulatur- und Skelettstudien am Präparat (für die, die´s ganz genau wissen wollen), sehr empfehlenswert sind auch plastische Studien (Modellierübungen in Ton) aus der Vorstellung.
Ansonsten gilt: am Ball bleiben, nicht unbedingt viel, aber regelmäßig und aufmerksam den Akt zeichnen!