Emersacker. Den Drang, seine Mitmenschen mit dem Zeichenstift aufs Korn zu nehmen, hat wohl jeder von uns einmal, und sei es auch schon lange zurückliegend, in der Kindheit, der Schulzeit gewesen, verspürt. Auf alten Schulbänken, in Schulheften und an Abortwänden hatte dieser Drang sich produktiv niedergeschlagen, die markanten Gesichtszüge schülerischer Mitgefährten, und die Visagen verhasster oder auch nur mild belächelter Lehrer, waren der Vergänglichkeit entrissen, und wohl nicht gleich der Ewigkeit, so doch zumindest der Geringschätzung der schulischen Nachwelt überantwortet worden.
Nicht von Ungefähr sagte ich "aufs Korn nehmen", denn ganz deutlich wurde der Zeichenstift zur Waffe, wenn es der Reduktion durch die Linien gelang, das Wesen des Gegners zu treffen, durch den Stift sich den Gegner zuzuspitzen, und Eimer des Hohnes und des Spotts über ihm auszugießen. Die gelungensten Treffer wurden, erbeuteten Jagdtrophäen wilder Safaris gleich, von Banknachbar zu Banknachbar, von Reihe zu Reihe, weitergegeben, zur Schadenfreude der Einen, zur Wut und Empörung der Anderen, der Getroffenen.
Zu ursprünglich, zu impulsiv ist dieser Wunsch nach dem "Treffenden", dem "Scharfen" menschlicher Abbilder, als daß die leicht verfügbare, perfekte Bilderflut aus digitalen Wegwerfkameras oder bildfähigen Handys diesen je auslöschen könnte.
Denn im Weglassen, im Zusammenziehen, im "Vergröbern" und "Zuspitzen" zugleich, liegt die große, imaginative Kraft der Zeichnung, und nirgends ist diese Kraft präsenter, als im Portrait, wenn dieses sich in der Übersteigerung der Karikatur zuwendet.
Giovanni Francesco Caroto, Der junge ZeichnerGeschichtliches
Von einem Portrait kann man sprechen, insofern die individuellen Eigenschaften der dargestellten Person den wesentlichen Inhalt und Kern des jeweiligen Kunstwerks, sei es nun Zeichnung, Malerei, Plastik oder Photographie, ausmachen. Portraitähnliche, naturalistische Figuren nach dem lebenden Modell, die Allegorien, historische oder mythologische Persönlichkeiten darstellen, sind so im eigentlichen Sinne keine Portraits.
Das Portrait verlangt eine eher ruhige, kontemplative Haltung gegenüber dem Modell, genaueste Beobachtung von Gestalt und mimischer Bewegung, ausgeprägtes anatomisches Wissen als Grundlage einer im Höchstfall auch und gerade das Seelische der Person ergründenden Durchdringung. Es verwundert nicht, daß die Portraitkunst ihre ausgeprägten Blüte- und Glanzzeiten in jenen eher ruhigen, harmonischen Epochen und Zeitaltern hatte, in denen eine reife, gefestigte bürgerliche Gesellschaft ihre individuellen, kulturellen Begabungen in Muße und Gelassenheit pflegte. (Römische Kunst der Vorkaiserzeit, Renaissance, Biedermeier)
Maß und Proportion (Nach Bammes)
Bei der Konstruktion des menschlichen Kopfes kann man wie folgt vorgehen: Als Ausgangspunkt für Frontal- wie Profilansicht dient uns das Quadrat. Wie hier gut zu sehen ist: Die Achse der Augen liegt ziemlich genau auf der horizontalen Mittellinie. Wir unterschätzen meist die vertikale Ausdehnung (= Höhe) des oberen Gesichtsschädels. Auf der vertikale Mittellinie der Frontalansicht liegen die Mittelpunkte zweier zu schlagender Kreise. Der Obere hat den Radius eines Drittels der Kopflänge, der untere kommt mit einem Viertel aus. Wir verbinden die beiden Kreise rechts und links mit ihren Tangenten - Die äußere Kopfform ist angelegt. Eine goldene Regel besagt: Nase und Ohren haben ungefähr dieselbe Länge und Position, eben im Bereich zwischen den Punkten, an denen die Tangenten die beiden Kreise berühren (gestrichelte Linie)!
Das Ziel im Auge behalten
Noch so intensive Instruktion und auch das brave Auswendiglernen einzelner Teilaspekte bewirken nicht, was wir allein im intuitiven, unmittelbar erkennenden Sehen leisten: Die subjektive, unabhängige zusammensetzende Neuschöpfung des "Objekts" im Akt des Sehens. Zwar kommen wir um die Klippen analytischen Zergliederns der Gestalt nicht so ohne Weiteres herum, wenn es uns um eine solide Grundlage geht; doch sollten wir an diesen Klippen auch in der Form nicht scheitern, daß wir an dem vorläufigen, zwangsläufigen Verlust zeichnerischer Spontaneität irre werden. Es ist nichts selbstverständlicher, als der kurzfristige Abfall unserer Leistung nach vermehrtem "Input", gerade bei so komplexer Information. Hat das (analytische) Wissen vom Einzelnen sich jedoch nach vermehrter Wiederholung gesetzt, so können wir von unserem vermehrten Wissensschatz und der automatisierten Beherrschung der Einzelformen merklich profitieren.
Denn was letztlich am meisten zählt, und worauf alles Lernen hinzielt, ist die Freisetzung von Ressourcen für die Organisation des Ganzen.
Eine besondere Beziehung
Eine besondere Beziehung? Gemeint ist natürlich diejenige, unmerkliche Beziehung, die im Portrait zwischen Gesicht und Händen des Portraitierten besteht, welche hier in diesem kurzen Überblick nicht ausgeklammert werden soll. Wie sie aus dieser Zeichnung unschwer erkennen können, war Egon Schiele nicht nur ein Meister der psychologisierenden Darstellung, sondern auch ein echter Könner und voll anatomischen Wissens.
Egon Schiele Bildnis des Kunstkritikers Arthur RoesslerTipps und Verständnishilfen
Ich habe hier ein wenig Material zusammengestellt, das Ihnen helfen wird einen guten Einstieg ins Portraitzeichnen zu finden. Unter dem Link www.figuredrawings.com/linkswritings.html finden Sie ein lange Liste Literatur, Rezessionen, Besprechungen, Artikel und Buchtipps zum Thema Figürliches, Akt- und Portraitzeichnen. Eine auch im verfahrenstechnischem Zusammenhang besonders für Bildhauer empfehlenswerte Lektüre ist das Buch "Porträtplastik", © 1997 by Dietrich Reimer Verlag, ISBN 3-496-01171-8 von Hans Dieter Junker und Peter Schubert, das auch für Zeichner und kunstgeschichtlich Interessierte Nützliches und Wissenswertes vermittelt.
Die interaktive Schautafel verwendet, in abgewandelter Form, Bild- und Ideenmaterial aus Lehrbüchern von Professor Gottfried Bammes, "Die Gestalt des Menschen", © VEB Verlag der Kunst Dresden 1982, ISBN 3-473-61009-2, und "Sehen und Verstehen", © Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1985, ISBN 3-06172511-3. Beide Bücher vermitteln Wissen in äußerst konzentrierter Form und sind sehr lesenswert.
Ich hoffe, dieser kleine Artikel hat Ihnen ein bisschen Lust auf das Portraitzeichnen gemacht. Wenn er Ihnen gefallen hat, dann besuchen Sie doch auch unsere anderen Seiten. Viel Spaß dabei!